MICROSTORY OF ART ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP AND CULTURAL JOURNALISM
Blue Hours of Hamburg and LA
(Picture: nytimes.com )
(Picture: youtube.com; ARD)
|
Das Buch Panikherz von Benjamin von Stuckrad-Barre wird in the deutschen Sachbuchcharts geführt. Ob dies im Sinne des Erfinders ist?
Nun, es handelt sich doch um einen Erfahrungsbericht (meint unser Sachbuchchartsdirektor). Um einen Erfahrungsbericht, der von der Abhängigkeit von Substanzen handelt. Und von Loskommen von denselben, also von einer Überwindung der Sucht.
Nun ja, schon richtig. Aber das Buch schildert ja nicht nur die Abhängigkeit von Substanzen, sondern spricht, oder besser: legt Zeugnis ab auch von der Abhängigkeit von Bildern, Wünschen, Ideen, Stimmungslagen, atmosphärischen Inszenierungen und dergleichen.
Und indem das Buch, der Roman davon Zeugnis gibt, bedient sich der Roman ja auch mancher, dürfen wir sagen, literarischer Inszenierungsstrategie?
So zum Beispiel im Kapitel, das Zur blauen Stunde überschrieben ist (S. 203ff.) und die Blaue Stunde, auch unser Thema, scheinbar gar nicht so recht zur Geltung bringt (wiewohl der Erzähler Bret Easton Ellis begegnet).
Aber das gerät durchaus stimmig. Denn bei der Blauen Stunde dürfte es sich ja um jene Zeitphase handeln, in der sich der Zustand der Entgrenzung, mit einem Wort: die Nacht, in die der Erzähler einzutauchen liebt, so allmählich ankündigt. Und der Erzähler, der immer noch ein Freund dieses Entgrenzungszustandes ist, mag auch die Vorfreude spüren, die vielleicht sogar den eigentlichen Rauschzustand übertrifft. Und diesem vorzuziehen ist.
(Picture: youtube.com)
Doch in Los Angeles, wo sich der Erzähler befindet, im Chateau Marmont Hotel, geht der Erzähler entschieden auf Abstand. »Die flirrenden Lichter des Santa Monica Boulevard, nichts ist schöner als so ein Ausgehviertel bei Nacht, die Lichter, die Verheissungen, Versprechungen, blaue Stunde, rotes Licht. Alles möglich; nur für Lukas und mich eben nicht mehr.« (S. 197)
Er liebt zwar noch die Idee der Entgrenzung. Er liebt auch noch, oder verehrt die Helden seiner Jugend. Doch die Begegnungen mit Bret Easton Ellis sind in einem durchaus gebrochenen Ton geschildert. Es gibt, wenn auch die warme Verehrung, auch ein Gefühl der Dankesschuld, noch da ist, auch Momente der Ernüchterung. Oder zumindest Anflüge von Irritation und Distanzierung. Und von nächtlicher Entgrenzung kann, wie gesagt, auch nicht mehr die Rede sein. Weil es in den totalen Albtraum führen würde.
In dieser Blauen Stunde, in diesem Kapitel findet sich somit alles: Der Sog, die Erinnerung an den Sog (vergangener Nächte), die Idee der Entgrenzung, der Wunsch nach Entgrenzung, die Selbstdisziplin auch. Eine Verfassung, die sich der Erzähler gegeben hat, und der er jetzt nachlebt. Und dies durchhält. »Man muss aufpassen.«, lauten die letzten Worte des Romans. Was sich nicht mehr findet: die Substanzen, die berauschenden.
Los Angeles bedeutet jetzt nichts weniger als: die Insel der Phäaken, den Moment, bevor der Reisende, der nochmals Sonne abholt, dann heimkehrt. Es bedeutet nicht (mehr) den Aufbruch, nicht die Odyssee. Und auch nicht den Wahnsinn, von dem der Song von Udo Lindenberg handelt.
In dem, wohl keineswegs ein Zufall, eben auch von der Blauen Stunde die Rede ist bzw. war, und der Odyssee heisst und 1983 erschienen ist.
Und den der Erzähler, aufgrund der tiefen Fan- und Udoliebe, natürlich intus hat (obwohl er es hier, gerade hier, nicht offen zu verstehen gibt).
Der Schriftsteller der in einem gewissen Sinne, da er sich verweigert, nicht in die Blaue Stunde von Los Angeles eingeht, geht dann doch in dieselbe ein: nämlich um wieder aufzutauchen in Hamburg, wo er sein Buch, das vollendete, gelungene, zu promoten sich anschickt.
Und dies sinnigerweise – oder die Inszenierung stellt sich jedenfalls her – in der Blauen Stunde von Hamburg, wo wir ihn in die Nacht eintauchen sehen: Portrait of a Writer with Green Light. Contemplating the Blue Hour of Hamburg.
Worauf sinnigerweise ein nachtblauer ARD Abspanntitel folgt. Man sehe, man lese, zur gegebenen Stunde, selbst. Einen Erfahrungsbericht, wenn man so will. Oder einen Roman: Panikherz.
»Kapitäne und Offiziere
Und Millionen blinde Passagiere
Treffen sich zur blauen Stunde
[…]
(Picture: youtube.com)
Titian, Leonardo and the Blue Hour
The Blue Hour Continued (into the 19th century)
The Blue Hour at Istanbul (Transcription of Cecom by Baba Zula)
The Blue Hour in Werner Herzog (Today Painting V)
The Blue Hour in Louis Malle
Kafka in the Blue Hour
Blue Matisse
(Pictures: youtube.com; ARD)
MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP AND CULTURAL JOURNALISM
HOME
Top of the page
Microstory of Art Main Index
Dietrich Seybold Homepage
© DS