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Second Series


Visual Apprenticeship
Second Series

Visual Apprenticeship (First Series)

Das Projekt Visual Apprenticeship

Felix Meister

Visual Apprenticeship (Second Series) I
Felix Meister


(Bild: zeno.org)




























































































































Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre,
Erstes Buch, erstes Kapitel, Die Flucht nach Ägypten
:
Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete. Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen. Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. »Wie nennt man diesen Stein, Vater?« sagte der Knabe.
»Ich weiß nicht«, versetzte Wilhelm.
»Ist das wohl Gold, was darin so glänzt?« sagte jener.
»Es ist keins!« versetzte dieser, »und ich erinnere mich, daß es die Leute Katzengold nennen.«
»Katzengold!« sagte der Knabe lächelnd, »und warum?«
»Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für falsch hält.«
»Das will ich mir merken«, sagte der Sohn und steckte den Stein in die lederne Reisetasche, brachte jedoch sogleich etwas anderes hervor und fragte: »Was ist das?« – »Eine Frucht«, versetzte der Vater, »und nach den Schuppen zu urteilen, sollte sie mit den Tannenzapfen verwandt sein.« – »Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund.« – »Wir wollen den Jäger fragen; die kennen den ganzen Wald und alle Früchte, wissen zu säen, zu pflanzen und zu warten, dann lassen sie die Stämme wachsen und groß werden, wie sie können.« – »Die Jäger wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein Hirsch über den Weg gegangen sei, er rief mich zurück und ließ mich die Fährte bemerken, wie er es nannte; ich war darüber weggesprungen, nun aber sah ich deutlich ein paar Klauen eingedrückt; es mag ein großer Hirsch gewesen sein.« – »Ich hörte wohl, wie du den Boten ausfragtest.« – »Der wußte viel und ist doch kein Jäger. Ich aber will ein Jäger werden. Es ist gar zu schön, den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vögel zu hören, zu wissen, wie sie heißen, wo ihre Nester sind, wie man die Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie füttert und wenn man die Alten fängt: das ist gar zu lustig.«
(Quelle: Projekt Gutenberg; Bild: Rob Lavinsky)

Ach ja, Katzengold. Warum bloss heisst das so? So sprach der Herr Vater zu sich (derweil versucht, in sein Smartphone zu tippen und eine Suchanfrage zu starten). Doch gewahr, dass sein Herr Sohn ihn unverwandt ins Auge fasste, verzog er keine Miene und versuchte sich gar an einer Deutung (die allerdings, je nachdem ob Wikipedia, wo der Herr Sohn schon nachgesehen hatte, recht hat) womöglich falsch zu nennen ist.

Und man mag das eine Urszene nennen. Eine Urszene menschlicher Erfahrung, eine Urszene der Erziehung, und eine Urszene der Bildung, mit der Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre seinen Anfang nimmt.

Wer hier erzogen wird, ist nur zu deutlich: es ist zunächst einmal der Herr Vater. Der zur Kenntnis nehmen muss, dass er womöglich wenig oder gar nichts weiss; und auch in den Augen seines Sohnes womöglich nichts weiss (dies ist die höchste Bildung, die höchste aller Freuden). Da der Jäger womöglich besser unterrichtet ist, was das Spurenlesen angeht, und auch der Bote (und was wirklich im Walde vor sich geht, weiss keiner).

Und alle wirken sie mit an der Erziehung des Sohnes, der zunächst einmal lernt, aufnimmt, aufschnappt. So manches Richtige (und vielleicht auch Falsches, und vielleicht auch Falsches, das ihm gar von der Vaterseite her angeboten oder gar eingetrichtert wird, wenn er nicht aufpasst).

In Christian Krachts Faserland gibt es eine Szene, in der der Erzähler sich vorstellt, wie er dereinst, wenn er denn Vater geworden sein würde, seine Kinder erziehen würde (»und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen«; S. 148).
Da ist aber kein Jäger in der Nähe, und auch kein Bote, und nur wir Leser sind Zeugen einer Fantasie, die in den Wanderjahren um einiges wirklichkeitsnäher, optimistischer, wagemutiger und zugleich illusionsloser (aber auch lebenstüchtiger) ausbuchstabiert ist.

Und wir sind Felix Meister, und ja, wir sind auch Wilhelm Meister. Wir nehmen auf, wir lernen, wir werden desillusioniert (weil das Lernen nicht immer reines Vergnügen ist, und das Erziehen womöglich noch viel weniger.

Nota bene, und hier kommen wir auf die Möglichkeiten des Bluffens zu sprechen, lernen wir auch, wie man über alles reden kann, ohne wirklich informiert zu sein. Nämlich (Technik a), indem wir Begriffe sprachgeschichtlich herleiten und so tun, als hätten wir etwas zu sagen, in Wirklichkeit aber nur den Tanz der Metaphern tanzen (hier: um das Katzengold); und (Technik b) indem wir das semiotische Paradigma ausspielen: alles ist Zeichen, alles verweist auf irgendwas oder auch nicht, jedenfalls klingt das immer eindrucksvoll, wenn man auf irgendwelche Beziehungen zwischen den Dingen verweisen kann, und wenn Felix Meister auf die Universität kommen wird, wird er das ausspielen können, was er bereits bei Goethe gelernt hat: nämlich das Indizienparadigma. Eco plus Ginzburg avant la lettre. Wir alle sind Detektive, wir alle lesen Zeichen. Und kommen uns so clever vor, und haben Überlebenstechniken in petto. Universitäre Techniken, aber auch solche, mit denen man sich als ein Robinson auf der Insel bewährt.

So heben sie also an, die Lehrjahre des Sehens. Und wir lernen: von Anbeginn an ist vieles (wenn auch vielleicht nicht alles) Schein. Real ist wenig. Und am realsten vielleicht, dass man nicht wissen kann, aus welcher Richtung die nächste Desillusionierung kommt.

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Peter Handke

Visual Apprenticeship (Second Series) II
Peter Handke


(Bild: Gorubdebesanez)















































































»Nach dem Vertiefen in die Gemälde Poussins auf der Stelle das Bedürfnis, ein neues Leben – ein Gemeinschaftsleben – anzufangen, Briefe zu schreiben, jemanden zu treffen, sich zu gesellen«
(Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, S. 251)

Gestern unterwegs ist jenes traumwandlerisch schöne, traumwandlerisch einsame Buch des Unterwegsseins von Peter Handke, ein Buch, das den Leser mit einem liebenswürdigen ›Lieber Leser!‹ empfängt.


Max Frisch, Montauk, S. 15:
»ich schwänze die Kunst und sitze im Gartenhof einen ganzen Vormittag. Es kann sein, dass mich Kunst nichts angeht, wenn ich allein bin. […]«
(Bild: hibino)

Es muss ja nicht immer die Axt sein, für das gefrorene Meer in uns, nicht das imperative: ›Du musst dein Leben ändern!‹. Nein, die Kunst mag uns für einmal auch mit einem liebenswürdigen ›Lieber Leser!‹ empfangen. Und genau das scheint sich auch Peter Handke – mehrfach – gedacht zu haben (vgl. S. 144), jener Peter Handke, der nicht nur in der äusseren Welt, sondern auch in inneren Welten unterwegs gewesen ist: nämlich auf der Suche – in der Sprache – nach einer anderen Metapher, nach einen anderen sprach-bildlichen Ausdruck für den Effekt, den die Kunst auf uns haben kann, vielleicht haben sollte. Er spricht von der ›sanften Lebensohrfeige‹, von der ›Backpfeife hin zum Leben‹ (S. 144). Und mit dem obigen Zitat scheint er, ganz nebenbei, noch einen anderen, noch sanfteren Ausdruck gefunden zu haben.

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Felix Philipp Ingold

Visual Apprenticeship (Second Series) III
Felix Philipp Ingold


(Bild: nzz.ch)


(Bild: br.de)



























































































































Es ist Sommer. Die Londoner Old Master sales sind vorüber. Ein vollständiger Jahreszeitenzyklus von Hand Pieter Brueghel des Jüngeren (bei Christie’s) wurde verkauft. Doch hier geht es um etwas anderes.


(Bild: Sailko)

Die Jahreszeitenbilder aus der Frühen Neuzeit machen deutlich: wie vielfach überformt ist unser Jahreszyklus; nicht zuletzt von Markgegebenheiten bestimmt (und die Londoner Saison hat lange Tradition).
Und doch erinnern eben gerade die Alten Meister daran, dass alles von bestimmten Grundgegebenheiten her bestimmt ist (und, indem es sie gibt und sie Wertschätzung hervorrufen, welche anderen, nicht monetären Formen der Wertschätzung es gibt).

Die Sprachen der Kennerschaft enstehen in diesem Zwiespalt; zwischen den Gegebenheiten und Erfordernissen des Marktes, und der echten Leidenschaft und der Freude an der Kontemplation. Einer Kontemplation, die sich, im Grunde, genug ist.

Die Sprachen der Kennerschaft speisen sich aus Sachkompetenz und Begeisterung; und es wäre an der Zeit, die Sprachen der Kennerschaft recht eigentlich zu entdecken, zu erforschen und – vielleicht – zu pflegen.


Felix Philipp Ingold, Leben & Werk, S. 63f.:
»Auf dem Küchentisch liegt noch der Ausdruck des anonymen Portraits aus der Berliner Gemäldegalerie, über das … zu dem ich für eine Katalogpublikation ›etwas Literarisches‹ schreiben soll. Ich setze mich hin, seh mir das ›Bildnis eines jungen Mannes mit schwarzem Barett‹ erstmals genau und aufmerksam genug an, um die folgenden Zeilen zu notieren – ein Gedicht: Was ist der Blick wenn nicht
Stille. Wenn nicht dreistes trauriges
Schweigen. Denn
wer wie er blickt weigert sich. Steigert sich
ins Unsäglichste. So begriffen
ist dieses Blicken nichts. Fasst nichts
als Glück.
Der kürzeste und tiefste Schatten ist der zwischen Maske und
… und Gesicht.
Der geht nicht mit nackten Augen ins Gemeine.
Und auch von seiner Nacht taugt nur
was sie vom Tag hat. Nie
kein Licht.
Bleibt also der beste Blick der
durch die schrägen Maskenschlitze. Und gleich sind
die Augen vergessen.
So ist alles viel besser zu sehn.
«

(Bild: Sailko)

Der Schriftsteller, Übersetzer, Publizist (fassen wir zusammen: Literatur- und Sprachkenner) Felix Philipp Ingold hat in seinen 2014 erschienen Tagesberichten zur Jetztzeit (unter dem Haupttitel Leben und Werk) ein ungewöhnliches Experiment gewagt: fünf Jahreszyklen, fünf einjährig geführte Tagebücher sind gleichsam aufeinander geschichtet worden, so dass – im Resultat – fünf Tagebücher, fünf Jahreszyklen, in Überlagerung, lesbar werden.
Dieses umfangreiche Buch lohnt die Lektüre, sagen wir: aus einem Hauptgrund, und aus einer Vielfalt von Nebengründen. Zum einen, dies der Hauptgrund, lässt sich hier nachvollziehen, wie ein Sprach- und Literaturkenner durchs Jahr geht, aus welchen Themen, aber auch aus welchen Beschreibungssprachen sich die Sprache seines Beobachtens speist, und natürlich: welche Beobachtungen er macht, in Kultur wie in Natur, in der Welt der Sprache, aber auch der Bilder (und nicht zuletzt: ›im Schatten zwischen Maske und Gesicht‹).
Sodann: es werden (dies ein Beispiel eines Nebengrundes), in diesem Experiment auch die vielen Überformungen des Jahreszyklus sichtbar, die unsere heutige Lebenswelt strukturieren und gestalten; nicht zuletzt die künstlichen, medialen Überformungen: der Zyklus der Programme. Und der Bauer der Frühen Neuzeit, nein der Literaturkenner des 21. Jahrhunderts, sieht, des Sommers, fern. Zum Beispiel, weil die Lieblingssendung auf dem Programm steht, oder gerade nicht auf dem Programm steht (aber stehen sollte). ›Kunst & Krempel‹ heisst diese Sendung im Falle von Ingold, eine Sendung, die nicht nur von besagtem Kunst und Krempel handelt, sondern auch von den Sprachen der Kennerschaft.
Zumindest in der Wahrnehmung eines Sprach- und Literaturkenners wie Felix Philipp Ingold:


(Bild: youtube.com)

»Die mir liebste Sendung ist ›Kunst & Krempel‹ beim Bayerischen Fernsehen – Leute wie ich und du bringen irgendwelche Erb- oder Fundstücke zur Begutachtung (Stühle, Musikinstrumente, Vasen, Kerzenständer, Bilder, Kommoden, Spiegel usf.), zwei Experten beschreiben, situieren, bewerten in Gesprächsform die Gegenstände, deren Verkaufswert zwischen zehn und hunderttausend Euro liegen kann – da wird in freier Rede höchst kompetent über handwerkliche Verfahren, Werkzeuge, Materialien, Signaturen, Schulen, Marktverhältnisse, Anwendungen berichtet, alles im strengen Direktbezug zum jeweiligen Objekt, alles ohne jedes theoretische Geflunker, dafür aber oft mit sichtlicher Begeisterung der Experten und zur echten Verblüffung der Besitzer. Würde bloss (das sage und wünsche ich mir) über Literatur … über das Handwerk des Schreibens mit solcher Sachkompetenz geredet!« (Leben & Werk, S. 545f.)

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Navid Kermani

Visual Apprenticeship (Second Series) IV
Navid Kermani


(Bild: taz.de)


Früchte der Berberitze (Bild: kuechengoetter.de)















































































Unsere Lektüre von Navid Kermanis Kolossalwerk Dein Name beginnt schon vor der eigentlichen Lektüre. Die Buchhandlung scheint kein Exemplar vorrätig zu haben? Doch, da; die Taschenbuchausgabe findet sich doch. Unter ›Fremde Länder‹ steht sie. Wie gut, dass auf die falschen Stereotype, besser: die Halbwahrheiten stets Verlass ist.

Zu Beginn von Dein Name wird jene Schreibtischplatte aufgebockt, die auch bildhaft für das ganze Unternehmen – worum auch immer es sich handeln mag – stehen könnte: ein Schreibuntersatz ist vorhanden, hergestellt, auf dem sich Manches, und auch Lebensentscheidendes ereignen wird.
Nicht zuletzt wird auch geschrieben; und von all den Rollen, die den Urheber biografisch ausmachen, erfahren wir. Nicht unbedingt nur (oder gar ausschliesslich) biografisch Belastbares. Vielmehr fügen sich quasi-autobiografischer Bericht, Selbstreflexion, Reportage, Geschichtsbetrachtung und anderes mehr (ja, auch, wie wir aus dem Spiegel wissen: biografische Fiktion oder Fingierung) ineinander, strukturiert durch jene besonderen Texte, die der Autor eingedenk der Toten (eben Gestorbenen) entwirft, denen er nahe stand (oder sich, aufgrund von Begegnungen, nahe wusste) und in unregelmässiger Folge – diesen Toten gedenkend, sie ›bedenkend‹ – in den ›Haupttext‹ einfügt.
Ob es für den Leser ein Durchkommen durch diesen Text gibt, steht noch nicht fest. Doch erneut ist festzustellen, dass die Lektüre von diesem kolossalen Gebilde schon lange vor der eigentlichen Lektüre begonnen hat.
Denn die persönliche Disposition wird, sie muss entscheiden, ob durchgehalten werden kann. Ja, sogar darüber entscheiden, ob das Gebilde – wenn auch eben zunächst nur für ihn selbst, als individuellen Leser, eine Struktur gewinnt.

Die schönsten, anrührendesten, ja tiefberührendesten Seiten, dies steht nach längerer Lektüre fest, sind für uns jene, die der Autor eingedenk der Freundin Nasrin Azarba entworfen hat (S. 261ff.). Es scheint uns, dass der Autor ein Bild entworfen hat, das zwar auch für sich selbst stehen könnte, aber doch zu einem anderen Bild wird, wenn man sich auch mit dem Autor, also sozusagen gemeinsam, durch die ersten 260 Seiten hindurch diesem Bild annähert, d.h. die Emotionen miterlebt, Verzweiflung, Trauer, Freundschaft, die in diesem Bild gefasst sind.
So gewinnt, für uns, der Roman sein doppeltes Zentrum, das aus dem Sterben der einen Nasrin, und der Geburt der anderen (der zweiten, nach der Nasrin Azarba benannten Tochter des Autors) besteht, und strukturiert sich als ein Gebilde mit einem, eben diesem Zentrum, sowie dem Davor und dem Danach (den vorbereitenden Passagen; sodann den Echos, dem Fortwirken der Kräfte, die in dem doppelten Zentrum enthalten sind).

Daraus ergibt sich für uns zweierlei, nämlich ein Hauptgrund, den Roman (weiter) zu lesen, der für uns nun ein viel strukturierteres Gebilde geworden ist und primär von der Freundschaft des Autors mit der Familie des Münchener Bildhauers handelt (und diese sozusagen, für uns, auf oberster Hierchiestufe, dem Hauptfokus unserer Interesses, verhandelt). Und zweitens ein Nebengrund, noch einmal genauer hinzusehen, wie etwa – auch im Porträt der Nasrin Azarba – Kermani die Sprachen der Kennerschaft handhabt (siehe auch Nebentext) und damit, unter anderem damit, ein Bild gewinnt.

»Das Abendessen im Haus des Verlegers hatte Nasrin zubereitet, ein Schirin Polo. Die Übersetzung ›Süsser Reis‹ lässt die Raffinesse nicht erahnen: Der Nuancenreichtum der persischen Saiteninstrumente, das Paradiesische eines kostbaren Teppichs, alle Verästelungen eines iranischen Gartens und die Durchdachtheit der traditionellen Architektur manifestierte sich in diesem Berg aus Reis, Mandeln, Pistazien, Berberitzen, getrockneten Beeren, Safran und wahrscheinlich einem Dutzend anderer Zutaten, den uns Nasrin auf einer riesigen runden Platte auftrug. Mit den vielleicht zehn, fünfzehn Reisgerichten, die zum iranischen Standard gehören, hatte diese Komposition nichts zu tun. Sie verhielt sich zu ihnen wie das Einzelstück eines Grossmeisters zur Massenware. Nasrins Küche war das, was Iran sein könnte, die Seligsprechung des Details.« (S. 261)


Navid Kermani und die Sprachen der Kennerschaft:

»Mit dem nächsten Stück, das sich unseren Ohren bot,
waren wir bereits bei Cortez The Killer angelangt,
einem echten Knaller also, der herrlichsten Ballade der
Rockgeschichte. Sie enthält alles, was Neil Young ausmacht,
die zarten Berührungen und den Grimm, die Ton gewordene
Hilflosigkeit im Gesang und trotzig aufheulende Gitarren,
das Thema des verlorenen Paradieses und die Suche danach,
die Schönheit und die Erhabenheit, den Schrecken, die Lust
und das sich abzeichnende Nichts. Mit Cortez The Killer
beginnt die Mystik Neil Youngs.«

(zitiert nach Navid Kermani,
Das Buch der von Neil Young Getöteten
;
wiederabgedruckt in: ders., Album, S. 47;
Bild: mysongbook.com)

Dass hier die Bildhaftigkeit des Reisgerichts zu etwas anderem wird, zu einer Vision, zu einem tieftraurigen Eingedenken auch, mag uns wiederum daran erinnern: was wir im Bild sehen, was wir sehen, hat mit unseren biografischen, besser: existenziellen Dispositionen zu tun. Das Davor, und damit das Unsichtbare ist mitzubedenken.
Und so handelt Dein Name, jedenfalls für uns, sicherlich auch von den Bildbetrachtungen, die dem langen Text ebenfalls eingelagert sind, jenen Betrachtungen von Werken christlicher Kunst, durch die der Autor ebenfalls bekannt geworden ist; doch vornehmlich, jetzt, handelt das Werk auch von der Relativierung von Sichtbarkeit, der Frage nach dem Davor (im mehrfachen Sinne). Und damit von der Frage nach uns selbst, und der Frage, was wir an ein Buch herantragen, damit es (persönliche) Struktur gewinnt. Und wir dann in der Lage sind, mehr zu sehen.
Auch uns zu sehen (und nicht zuletzt auch in der Frage nach dem Bild).

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Alexander Kluge

Visual Apprenticeship (Second Series) V
Alexander Kluge


(Bild: Kluge-Alexander.de)




(Bild: kino.de)















































































In seiner Fritz Lang-Biographie (München, 2014) kommt der deutsche Filmwissenschaftler und Autor Norbert Grob auch auf jene Episode zu sprechen, die eigentlich eine ganze Mediengeschichte der Nachkriegszeit enthält: 1958 vermittelte der Philosoph Theodor W. Adorno den nachmaligen Autor und Filmemacher Alexander Kluge als Regieassistenten an den legendären Regisseur.

Um ihn, wie es heisst, der Literatur, diesem verbrauchten, an ein Ende gekommenen Medium abspenstig zu machen. Oder: um ihn, gut Benjaminisch, jenem Medium zuzuführen, auf dem die Hoffnungen der schon Aufgeklärteren, die Hoffnungen auf weitere Aufklärung ruhten?

Wie dem auch sei – im Rahmen von Grobs Narrativ vermittelt sich, wie es scheint, eine etwas andere, neuartige Deutung der Episode. Demnach lernte Kluge damals den Apparat Film kennen, als einen Raum, in dem konkurrierende Impulse etwas hervorbringen, das hernach nicht unbedingt als eine kollektive Schöpfung gilt. Aber schon gar nicht als eine Schöpfung des Apparats.
Wiewohl sich in diesem Fall – dem Film Das indische Grabmal (1959) – Regisseur Fritz Lang offenbar so zurücknahm – und nur noch die Dreharbeiten leitete –, dass sich schon die Frage stellt, wessen Schöpfung, wessen visuelle Schöpfung dieser Film nun ist.

»Der Produzent habe ›mit massiver, wirklicher Gewalt‹ in die Dreharbeiten eingegriffen und ›direkte Anweisungen an den Oberbeleuchter, an den Bühnenarchitekten (…) gegeben‹. So sei ›jede zweite Idee von Fritz Lang (…) als zu teuer, als zu abwegig unterminiert‹ worden. Wie später der Filmkritiker der Zeit, Uwe Nettelbeck, berichtete, habe Lang am dritten Tag ›aufgehört, Regie zu führen, und sich damit begnügt, herumzusitzen und die Dreharbeiten zu beaufsichtigen (…)‹ Kluge bestätigte diese Darstellung später. Lang äusserte sich dazu nie.«

Und Alexander Kluge wurde hernach, später, zu jener eigenwilligen, vorrangig als Stimme präsenten fragenden, manchmal selbst antwortenden, manchmal atemlosen ›Stimme des deutschen Fernsehens‹, in jenen oft erstaunlichen Abend- und Nachtstunden, die anspruchsvolle, ja manchmal recht eigentlich entrückte Themen verhandeln und dementsprechend als Bildungsfernsehen durchgehen können.

Dieses Fernsehen – von einem Individuum hervorgebracht, in Interaktion mit anderen Individuen – lässt es sich nicht auch auf jene Episode beziehen, die den jungen Kluge, suchend, zwischen den einzelnen Medienformationen zeigen?
Die es als Episode auf jeden Fall verdiente, um der Aufklärung willen, von möglichst vielen Seiten beleuchtet zu werden.

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Adam Zagajewski

Visual Apprenticeship (Second Series) VI
Adam Zagajewski


(Bild: nzz.ch )


Das Wesen der Bewegung (Bild: DS)




























































(Bild: DS)

(Bild: DS)

(Bild: DS)

»Ich ging durch die Planty: Ein kleines Mädchen überholte mich mit dem Roller, und im selben Augenblick begriff ich das Wesen der Bewegung. Aber ich kann es nicht erklären.«
(Adam Zagajewski, Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum, München 2014, S. 119)

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Stendhal

Visual Apprenticeship (Second Series) VII
Stendhal


(Bild: britannica.com)


(Bild: tvspielfilm.de)















































































In seinen operettenhaften Übertreibungen verhandelt Stendhals hell-dunkler Roman Die Kartause von Parma auch das Thema ›Eifersucht‹.


…aus dem Dunkeln heraus
(Eifersucht, gesehen bzw. insinuiert von Paris Bordone

Und hierbei gilt: je operettenhafter, desto realistischer. Denn nie verhält der Mensch sich närrischer, lächerlicher, als wenn, aus dem Dunkeln heraus, von Eifersucht zerfressen, er/sie seine Späher ausschickt. Wie eben, in Kapitel 13, Graf M. Um Kunde einzuholen, geeignet, die Eifersucht zu nähren, will sagen: progressiv zu steigern (vgl. auch Kapitel 7 sowie Über die Liebe, Kapitel 35 und 36).

Selten gibt es Linderung. Und wenn, gemäss der Logik der Eifersucht eben nur dann, wenn von der Not des oder der Rivalen der Leidende zufällig Kunde erhält.

Späher, Zuträger gibt es genug, das zeigt sich auch in den sozialen Netzwerken der Jetztzeit. Nachrichten – auch Fotos –, ob gefälschten oder wahren Inhalts, werden schon eintreffen. Weil die Späher sich, warum auch immer, andienen (vielleicht weil die Eifersucht ein so närrisches Spektakel bietet, also womöglich deshalb, weil Steigerung auch das Vergnügen des Zusehens steigert).

Eifersucht, so zeigt sich, tendiert dazu, sich unsichtbar zu machen. Der Eifersüchtige zieht sich im Grunde aus dem Spektakel zurück, kann in Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres erscheinen. Verstellung täte not, aber die Qual wäre zu gross, die Schwäche zu anschaulich: Kein Gott weiss, wie der Eifersüchtige leidet bzw.: jeder weiss es, wüsste es, und darf es gerade deshalb nicht sehen.

All das wirkt, von aussen betrachtet, lächerlich. Närrisch. Aber wehe, wenn es einen selber betrifft. Insofern enthält Die Kartause von Parma gerade in ihrer Operettenhaftigkeit – man mag sie gerade dafür lieben oder hassen – einige Lektionen (weitere werden folgen). Über Eifersucht und ihre Ikonographie, oder besser: über Eifersucht und ihre Zuträger und Späher. Kurz: Über den Voyeurismus der Eifersucht.

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Navid Kermani II

Visual Apprenticeship (Second Series) VIII
Navid Kermani II


(Bild: taz.de)


Giuseppe Castiglione, Ansicht des Grand Salon Carré im Louvre































































»Der spätere Orthopäde [ein Bruder des Autors] meditierte im Louvre mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl, statt sich wenigstens die Mona Lisa anzuschauen, weil die äusseren Bilder nur Schein sind, […].«
(Navid Kermani, Dein Name, Reinbek 2015, S. 956)

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George Smiley

Visual Apprenticeship (Second Series) IX
George Smiley


(Bild: spiegel.de)
















































































Von Willem van Mieris (Bild: christies.com)

»Über die Jahre hinweg hat Smiley sich eine kleine Kunstsammlung zugelegt, zu der eine Watteau-Skizze, eine Figurengruppe aus Meissener Porzellan, ein Callot und ein winziger van-Mieris-Kopf in Kreide gehören. Wenn er es sich leisten könnte, dann würde er dieser Sammlung noch eine Degas-Ballerina zweifelhafter Herkunft hinzufügen, weil sie ihn an Ann erinnert.«
(David Monaghan, Smiley’s Circus. Die geheime Welt des John le Carré, München 1992, S. 252)

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Danseuse dubioser Provenienz… (Bild: DS)

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Benjamin von Stuckrad Barre

Visual Apprenticeship (Second Series) X
Benjamin von Stuckrad Barre


(Bild: sueddeutsche.de)


(Bild: youtube.com)















































































»Udo nahm die Sonnenbrille ab, schaute mich an, und es ist wirklich gut, dass er immer die Sonnenbrille trägt, gar nicht so sehr, um ihn zu schützen, sondern um die anderen Menschen vor diesem Blick zu schützen. Der ist so unfassbar anrührend, dieser tiefe Udo-Blick, und er weiss auch sehr genau, wann in einem Konzert oder im sonstigen Leben dieser Moment fürs Brilleabnehmen gekommen ist, der dann eine Extraintensität herstellt, kurz, die vielleicht weder er noch der so Angeschaute länger aushalten würde.«
(Benjamin von Stuckrad Barre, Panikherz, Köln 2016, S. 325)

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Visual Apprenticeship (First Series)

Das Projekt Visual Apprenticeship


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Zuletzt geändert am 01 September 2017 19:01 Uhr
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